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Ἀλέhιον: lexikalische Diffusion
im 2. vorchristlichen Jahrtausend

von George Hinge

 

 

1. Die wichtigste Isoglosse, die die südgriechischen Dialekte von den nordgriechischen unterscheidet, ist die Assibilation von inlautendem *t vor i. Während im Ionisch-Attischen, Arkadisch-Kyprischen und Lesbisch-Äolischen idg. *ti in den meisten Umgebungen als si erscheint, ist die Assibilation im Dorischen, Nordwestgriechischen, Böotischen und Thessalischen auf die Nomina actionis auf *-ti- beschränkt, während die Endungen der 3. Person *-ti, *-nti, die Adjektive auf *-ti(h1)o-, das Zahlwort *(h1)u̯ih1k̂m̥tih1 „20“ und die Präposition *p(r)oti unverändert geblieben sind. So ungefähr die Handbücher.

Es gibt in den dorischsprachigen Inschriften (der einzigen zuverlässigen Quelle) zwar Ausnahmen, aber sie werden regelmäßig als südgriechisches Substrat („Achäisch“) bzw. Adstrat („ionische Wissenschaftssprache“) abgefertigt. Mykenische Gegenbeispiele mit t werden umgekehrt als Indiz für das Vorhandensein eines nordgriechischen oder schlechthin dorischen Elementes auf der Peloponnes schon vor der Zerstörung der Paläste genommen. Beispiele für t in der epischen Sprache werden paradoxerweise einer äolischen Phase zugeschrieben, obschon der asiatische äolische Dialekt, an dessen Brust das Epos angeblich aufgesäugt wurde, mit Pauken und Trompeten assibiliert. Dass die Isoglosse, die Südgriechisch und Nordgriechisch trennen soll, den einen nordgriechischen Zweig durchquert, ist ja auch nicht besonders angenehm.

2. Dass t vor einem i zu einem Sibilanten wird, ist an sich nicht problematisch: Sowohl Hittitisch als Rumänisch bezeugen ähnliche Lautentwicklungen (desgleichen im affektierten Kopenhagener Dänisch Tivoli = ['tsi:w̩li]). Das Problem ist ja eher, wie die Schwankung zwischen s und t in den verschiedenen Dialekten und in den verschiedenen Wörtern zu erklären sein mag.

Jens Holt, der den Lehrstuhl für Indogermanistik in Århus erhielt, hat in der Festschrift für Holger Pedersen dieser Frage einen kleinen Beitrag gewidmet, in dem er zwei Phasen der Assibilation unterscheidet, und zwar eine dialektale und eine gemeingriechische (in dieser Chronologie). Die dialektale Assibilation, die ausschließlich Ionisch-Attisch, Arkadisch-Kyprisch und Lesbisch-Äolisch charakterisiert, betrifft demgemäß lediglich auslautendes *-ti in den mehrsilbigen Wörtern: τίθησι, φέρουσι, εἴκοσι, πέρυσι (in den zweisilbigen Wörtern sei i aber „plus forte“ gewesen: ἔτι, ἄρτι).

Die gemeingriechische Assibilation, die die Nomina actionis auf *-tis und die Adjektive auf *-tih1os trifft, führt Holt dagegen auf eine Schwächung des iim Hiatus und eine nachfolgende Assibilation des vorausgehenden t zurück: Genitiv *pótios > πόσιος und analog Nominativ *pótis > πόσις. Umgekehrt wurde t manchmal wieder analog eingeführt: στρατιά, Ὀπούντιος usw. αἴτιος und ὕπτιος wurde durch das erhaltene t von αἴσιος bzw. ὕψιος semantisch getrennt. Die Hunderte seien im Dorischen „plus étroitement liés à ἑκατόν qu’ion.-att. διακόσιοι;, où l’ο des dizaines a pénétré“ und behalten demzufolge das t bei.

3. Eine allgemeine Assibilation im Hiatus scheint allerdings dem Zeugnis des antiken Grammatikers Herodian (2. Jh. n.Chr.) zu widersprechen:

„πλησίος ist nicht zum Futur gebildet, denn die Lakoner haben nicht τ statt σ in den Wörtern, die zu Futura gehören, sondern nur in den Wörtern, in denen σ aus τ kommt: Für ἐνιαύσιος zu ἐνιαυτός sagen sie ἐνιαύτιος, indem sie an das ursprüngliche τ erinnern; ebenfalls πλούτιος statt πλούσιος zu πλοῦτος. Für πλησίος sagen sie πλατίος, weil es zu keinem Futur gehört ...“

Die Inschriften aus dem westgriechischen Raum bieten ja auch unzählige Beispiele für erhaltenes t in dieser Stellung: ἐνιαύτιος, πλατίος (auch bei Epicharm und Theokrit) usw. Es gibt aber in den Inschriften schon genug Beispiele für die Assibilation, z.B. lakonisch ἀ]λέhιον, ἀπορηhία und Λιθέhια – die Verhauchung des inlautenden s zeigt, dass wir es wenigstens synchron mit epichorischen Wörtern zu tun haben. Dazu schließen sich etliche Beispiele aus der Nebenüberlieferung (z.B. Aristophanes + Hesych γερωἵα = γερουσία). Perpillou schreibt solche assibilierte Wörter dem mykenischsprachigen Substrat Lakoniens zu.

4. Auch Gregory Nagy versucht sich an einer phonologischen Erklärung, indem er auf einen verketzerten Vorschlag von Kretschmer zurückgreift. Die Variation sei vom Akzent bedingt, so dass betontes */-tíjV/ stehen blieb, während unbetontes */-´tjV/ sich lautgesetzlich zu */-´siV/ entwickelte. Der Wechsel sei später in den verschiedenen Paradigmata und Ableitungen ausgeglichen: /e.ni.áu.sjos/ : /e.ni.au.tí.o:i/ > ion.-att. ἐνιαύσιος, und eventuell semantisch genutzt worden: /ái.si.os/ : /ai.tí.o:i/ > αἴσιος „günstig“ : αἴτιος „schuldig“ (von diesem Stamm ist eben die i-betonte Form αἰτία äußerst beliebt).

Falls der dorische Akzent alt ist (was keineswegs undenkbar ist), mag er dazu beigetragen haben, die dorische Wahl zu prägen, indem Ionisch-Attisch die vorvokalische und Dorisch die vorkonsonantische Variante fortgesetzt haben: */e.ni.áu.sjo.j#V/ > ion.-att. ἐνιαύσιοι : */e.ni.au.tí.oi.#C/ > dor. ἐνιαυτίοι. Es ist wunderbar, wenn eine These auf einmal so viel erklären kann.

5. Nagy scheint aber ein wichtiges Gegenbeispiel außer Betracht gelassen zu haben, und zwar πλησίος. Das ursprüngliche *t (vgl. dor. πλατίον) ist zu s geworden, obzwar das ibetont ist, und da das Wort alleine steht, darf man sich nicht auf Analogie berufen.

Trotz der Kritik von Chantraine muss πλησίος „nahe“ mit Schwyzer von einem verlorenen Adverb *plātí hergeleitet werden. Das Wort gehört mit πίλναμαι „sich annähern“, ἄπλατος, idg. *pelh2- zusammen, und da es kein suffixbetontes *-tío- (oder *-ío-) gab, ist irgendeine Zwischenstation anzunehmen. Die Adverbien auf -τί sind im Griechischen sehr häufig, z.B. ἐγερτί, ἐγκυτί, Ἑλληνιστί und v. a. mit dem α privativum ἀγελαστί, ἀθεωρητί usw. Unsere Ableitung entspricht αὔριον zu αὖρι (Aisch. Fr. 420), ἡμέριος zu *ἡμέρι und ἠμάτιος zu ἠμάτι, alle ursprüngliche Lokativformen.

Kann die Herleitung von *plātí aber die Assibilation erklären? Können wir uns vorstellen, dass das auslautende *-tí im ionisch-attischen assibiliert wurde, bevor das nominale -os hinzugefügt wurde? Diese Adverbien haben aber keine Assibilation – wie übrigens der Dativ der t-Stämme (z.B. νυκτί, φιλότητι).

Andererseits sind dorische Formen wie Ἀφροδίτιος, Ἀρτεμίτιος problematisch, egal ob man denkt, dass jedes *-tiV- assibiliert wurde, oder ob man betontes *-tíV- freihält. Und dasselbe gilt für die ionisch-attischen Beispiele für das erhaltene t: σκότιος, αἴτιος (nach σκοτία, αἰτία?).

6. Die Schwankung zwischen t und s lässt sich wohl in Wirklichkeit nicht phonologisch mittels eines avancierten „Verner’schen“ Gesetzes erklären, obzwar es ärgerlich ist, auf die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze verzichten zu müssen. Statt in der Analogie ein zerstörendes Element zu finden, das die subtilen phonologischen Unterschiede ausgleicht, muss sie vielmehr in den Vordergrund treten. Wir haben vor uns ein Musterbeispiel der lexikalischen Diffusion, das Phänomen, dass ein Lautgesetz in einer Ecke des Sprachmaterials anfängt und sich allmählich durch die Einzelwörter durcharbeitet, bis es entweder das Ganze beeinflusst hat oder die Richtung gewechselt hat.

Das Gesetzt lässt sich als t > s / V, C(?s) _ iV formulieren. Offentsichtlich hat es die Sprache nicht wie ein Blitz getroffen und auf einmal jedes tiV zu siV geändert, sondern es hat vielmehr spezifische Worttypen beeinflusst und durch Paradigmen und Parallelbildungen seine Einflusssphäre immer mehr erweitert.

Zuerst wurde das t der Suffixe getroffen, indem *-tio- für ein zusammenhängendes Morphem gehalten wurde: δημό|της : δημό|σιος und ἐκκλη|τός : ἐκκλη|σία sind gemeingriechisch. Den Morphemen -to-, -t-, -tā- entsprachen schließlich Adjektive auf -sio-. Besonders beliebt ist -síā- als Alternative zu ?-si- in Zusammensetzungen mit nominalen Vordergliedern, α privativum oder εὐ-, z.B. πρᾶξις : ἀ-/εὐπραξία. Die Verbindung -ēsio- hat sich sogar schon früh verselbständigt: βροτ|ήσιος, ἐτ|ήσιος, ἡμερ|ήσιος. Auch die Nomina abstracta waren unter den ersten Opfern: Genitiv λύ|σιος und analog Nominativ λύ|σις; das alte t nur in epischen Residuen wie φάτις (nur Nom.!) und im Dorischen im erstarrten Vokativ Ποτει-δάν (ion.-att. Ποσειδών; Substrat in lak. Ποhοι-δάν?).

7. Das Lautgesetz ist im Dorischen ungefähr dort geblieben: z B. lak. IG V1 213.37, .54, .60 Λιθέhια, 363.17 Φλ]οιασίου, 850-862 δαμόσιος, 1572 Ϝορθασία (> Ϝορθαία, -εία), 1590 Δεσπόσιος, SEG 40.347 A.1 ἀπορηhία (: ἀπορέω), kret. IC I:xvi 5.43 Θιοδαίσια (: δαίω), II:v 4.7 ἀ]ναρσίας (: ἀραρίσκω), IV 58.4, 78.2 Λατόσιον. Wo das t kein Teil des Morphems war, blieb es aber stehen: Ἀφροδίτιος, Ἀρτεμίτιος, Μιλάτιοι. Ebenfalls in den Hunderten: z.B. lak. IG V1 1 A.16-17 ὀκτακατ[ί|ος (Ende 5. Jh. v.Chr.), Olympia V 171.9-10 ἑξακάτι|οι (316 v.Chr.), aber, in einem Versinschrift, IG V1, 239b.7 δι[ακ]οσίο[ισι (Anfang 4. Jh. v.Chr.). Es gibt etliche Belege für -κάτιοι aus den anderen westgriechischen Dialekten, aber in den hellenistischen Inschriften ist -κόσιοι noch häufiger.

Lakonisch ἀ]λέhιον (ein Opfer, IG V1 1316.5, 5. Jh.) wird bei allen Gelehrten von *alē-war / -at- „Mehl“ abgeleitet (Od. 20.108 ἀλείατα, Sophron Fr. 38 Kassel/Austin ἄλητα). *alēwation hätte aber auch im Ionisch-Attischen das Ergebnis ?ἀλεάτιον, ?ἀλήτιον gehabt (s. unten). Ich will es deswegen lieber direkt vom Verb ableiten: ἀλέω „mahlen“, ἀλετός (*h2leh1-), d.h. ἀλέσιον mit einem kurzen ĕ (der lange Vokalismus in Hesych ἀλήσιον· πᾶν τὸ ἀληλεσμένον ist spät).

Der spartanische Rat der Ältesten heißt in Aristophanes’ Lysistrata γερωχία, vgl. auch in Hesychs Lexikon γερῶα· γεροντία. ἦν γὰρ σύστημα γερόντων, γερωνία· παρὰ Λάκωσι καὶ Λακεδαιμονίοις καὶ Κρησί und γεροάκται· οἱ δήμαρχοι. παρὰ Λάκωσιν. Hinter allen diesen Formen steckt wahrscheinlich γερωἱα. Aristophanes’ lakonischen Partien sind allerdings nur eine Parodie, ganz wie wenn ein Däne in einem Theaterstück Schwedisch nachahmen wollte; [gero:hía:] mag also einfach aus einem attischen [geru:sía:] verlakonischt worden sein.

Xenophon, der im Gegensatz zu Aristophanes längere Zeit in Sparta verbrachte und den Dialekt wohl intimer kannte, hat aber ein paar Male die Form γεροντία (Lak. 10.1, .3), in der Perpillou entweder einen „laconisme plus laconien que celui des Spartiates eux-mêmes“ oder eine „réaction dorisante à Sparte même“ sehen will. Sie scheint aber jetzt durch γεροντεία in einer neuen Versinschrift (Anfang des 4. Jh.) bestätigt worden zu sein, obwohl die zweitletzte Silbe dort lang ist, und wir es deswegen vielleicht mit einer anderen Bildung zu tun haben (es sei denn, dass der Unterschied zwischen den langen und kurzen Vokalen schon im spätklassischen Lakonisch vor einem folgenden Vokal neutralisiert worden war).

Die lakonischen Inschriften bieten ein anderes Beispiel für erhaltenes t in -nt-iV-: Ἀροντίας (IG V1 24, .40, 5. Jh. v.Chr.; Göttin), wahrscheinlich zu einem Ortsnamen: *Ario-went-. Die Städte auf *-o-went- > -οῦς haben im dorischen Raum Völkernamen auf -ούντιοι: Σελινούντιοι, Ὀπούντιοι, Οίνούντιοι usw. Eine Ausnahme bildet zwar korinthisch IV 427 Φλειάσιος (zu Φλειοῦς); es ist aber offensichtlich zur n-losen Schwundstufe gebildet worden: *Phleiwo-wat-io-.

8. Problematischer ist schon φιδίτιον/-α (vv. φιλ-, φειδ-), das nicht nur in der Literatur (Xenophon, Lak. 3.5, 5.6, Aristoteles, Pol. 1271a27 usw.) überliefert ist, sondern auch in einer Inschrift aus der Kaiserzeit (IG V1 150). Es handelt sich angeblich um das lokale Wort für den besonderen dorischen Männerclub (auch ἀνδρεῖον). Es gehört mit φειδῖται „Genossen des Clubs“ (Athen. 4, 140e, 141c) zusammen, das seinerseits irgendwie zu φείδομαι „sparen“ gehört, wie ζευγίτης zu ζεῦγος. Hätten wir aber nicht ?φειδίσια erwarten sollen wie im Falle δαμό|τας : δαμό|σιος? Das Suffix -ίτης ist ohnedies sekundär (nach πολίτης), und es hat wahrscheinlich keine Vorbilder für die Bildung eines Substantivs zu diesem Suffix gegeben. ζευγίσιον ist einmalig (Arist., Athen. 7.4); zu πολίτης haben wir πολιτικός und πολιτεία, nicht ?πολίσιος und ?πολισία (ebenfalls τραπεζιτικός, -εία usw.) Ob das gemeingriechische Synonym συσσίτια (seit Herodot von lakonischen Verhältnissen) eine Rolle in der lakonischen Bildung gespielt hat, ist unsicher.

Einer besonderen Erwähnung bedürfen auch die Adjektive πλούσιος „reich“ und ἐνιαύσιος „jährlich“ zu πλοῦτος bzw. ἐνιαυτός. Wir sahen, dass Herodian für das Lakonische die Form πλούτιος anführte, aber sie ist auf die Grammatiker beschränkt und könnte insofern ein „Grammatikerdorismus“ sein. In dorischsprachigen Inschriften ist ἐνιαύτιος dagegen öfters belegt. Die etymologischen Lexika lehren, dass ἐνιαυτός von einem obsoleten ἔνος (in δίενος, τετραένης, „zwei-“ bzw. „vierjährig“) und einem to-Verbaladjektiv zu ἰαύω „schlafen“ zusammengesetzt ist, d.h. „Jahresruhe“, entweder zum reduplizierten Präsensstamm oder mit einem Binden-i: *en-i-au-tós. Das dorische t ist gegebenenfalls ein unregelmäßiger Archaismus.

Da die Wurzel ursprünglich auf s ausging (*h2ues-: ved. vásati, hitt. huiszi, got. wisan), und das entsprechende Verbaladjektiv also *h2ustós > ?αὐστός lauten müsste, ist die Etymologie jedoch hinfällig. Die Semantik war ja ohnehin nicht befriedigend. Es bleibt dann nur die alternative Etymologie (schon Platon, Krat. 410d): eine Hypostase von ἐνὶ αὐτῷ (sc. ἔτει) „in demselben (Jahr)“. πλοῦτος ist freilich ein o-stufiges Verbalsubstantiv zu πλέω (*plóu-to- „Überfluss“); es hat sich aber sicher schon früh verselbständigt, und es ist deshalb kein Wunder, wenn die Assibilation dem dorischen πλούτιος vorbeigelaufen wäre.

9. Im Südgriechischen wurde der Deich endlich mal gebrochen, indem das Lautgesetz sich allmählich in die Beispiele einfraß, die in t-Formen keine entscheidende Stütze fanden: z.B. ἀνεψιός, -κόσιοι, Ἀρτεμίσιος, und das Wirkungsfeld erweiterte: t > s / V, C (? > s) _ i#, z.B. δίδωσι, εἴκοσι, πέρυσι. Das isolierte ἐνιαυτός wurde offenbar in die *-to- : *-sio Paradigma aufgenommen (schon mykenisch e-ni-ja-u-si-jo). Die selbständige Semantik von πλοῦτος ist schließlich dem Zwang der immer noch erkennbaren Ableitung gewichen. Die Ableitungen zu nt-Stämmen sind im Süden alle assibiliert: vgl. myk. ke-ro-si-ja (: γέρων, = γερουσία), te-ra-po-si-jo (: θεράπων). Eine Zeit lang wurden auch th und nth mitgerissen, vgl. myk. ko-ri-si-jo (: Κόρινθος), aber klassisch Κορίνθιος (doch Τρικορύσιος, Ἀμαρύσιος usw.).

Nicht alle Formen wurden getroffen: Wo das t als Teil des Lexems aufgefasst wurde, blieb es unberührt: z.B. αἴτ|ιος αἰτ|ία (: αἰτ|έω, ἔξαιτ|ος), ἁμαρτ|ία (: ἁμαρτ|άνω), -ἐτ|ία (ἔτ|ος), -κρατ|ία (: κράτ|ος), -σιτ|ία (: σῖτ|ος), σκότ|ιος (: σκότ|ος), στράτ|ιος, στρατ|ιά (: στρατ|ός) und die Neutra auf -at- -χρηματ|ία, -γραμματ|ία usw. Vgl. auch myk. me-ri-ti-jo (: μέλι). ἄρτιος, ἄντιος und ἠμάτιος gehören zu Adverbien auf -τί und behalten folglich t bei (ἀνάρσιος ist entweder von dieser Beziehung frei gewesen oder selbständig mit *-io- direkt zu *ar-tó- gebildet worden). πλησίος konnte dagegen ungehindert die Assibilation erfahren, nachdem das Simplex *plātí nicht mehr vorhanden war.

10. Die Assibilation fand nicht auf einmal um 1743 v.Chr. statt, sondern verwirklichte sich stufenweise und in den verschiedenen Dialekten mit unterschiedlicher Durchschlagskraft. Ich unterscheide folgende Phasen:

α. Die Abstrakta auf -ti- und Adjektive zu Nomina mit den Suffixen -to-, -t-, -tā-: ἀλήσιος, δημόσιος

β. Adjektive zu Partizipien auf -nt- und dergleichen: γερουσία

γ. Auslautendes -ti: δίδωσι, λέγουσι, εἴκοσι

δ. t in isolierten Lexemen: πλησίος, -κόσιοι

ε. t in verzweigten Lexemen: πλούσιος

Die erste Phase gehört wahrscheinlich zur Zeit, als die Vorstufe der griechische Sprache sich auf dem südlichen Balkan unterließ (2300/1650 v.Chr.?), und ein neues s-Phonem statt des verhauchten (bzw. zu verhauchenden) idg. *s durch die Aufnahme vorgriechischer und orientalischer Wörter eingeführt wurde. Der Prozess wurde spätestens um 1400 v.Chr. abgeschlossen, wie die mykenischen Täfelchen bezeugen.

Nordgriechisch hat lediglich Phase α mitgemacht, während Südgriechisch die meisten Wörter von δ und etliche von ε assibiliert hat. Die Ergebnisse der Dialekte beschreiben also eine beispielhafte S-Kurve, wie es in der lexikalischen Diffusion üblich sein soll. Sie steigt langsam an in α (als die Vielzahl der Suffixe assibiliert wurde), wird aber steiler in β-δ (wie es synchron aus dem abrupten Unterschied zwischen Süd- und Nordgriechisch hervorgeht) und nimmt dann wieder in ε ab (auch nicht im Südgriechischen abgeschlossen).